Alles andere als wässrig – Audioriver 2008

Nachfolger haben es oft nicht einfach. Während Sister Act ganz amüsant war, konnte man den zweiten Teil dieser filmischen Whoopie Goldberg Tirade getrost in die Tonne drücken. Für Festivals gilt diese Weisheit natürlich auch und ehrlich gesagt hatten sich die unterbewussten Erwartungen schon ein wenig in Stellung gebracht, als die Meldungen übers 2008er Audioriver so nach und nach eintrudelten. Trotz des diesjährigen Logos braucht das Audioriver seine Ballettschuhe noch lange nicht an den Nagel hängen. Es wurde getanzt auf Teufel komm raus, um die gute Stimmung des Vorjahres zu toppen und noch verschwitzter nach Hause zu gehen. Da war ordentlich Musike im Fluss…

Die Erinnerungen an letztes Jahr sind immer noch quicklebendig: plötzlicher Vodkamangel, sowie die Begegnung mit Top Live Acts wie Spooky, Hybrid und Infusion. Das 2008er Follow-Up ging neue Wege. Zwar gab es auf der Hauptbühne wieder den Split zwischen Drum’n Bass am Freitag und progressiveren Klängen am Tag darauf; der Samstag jedoch beinhaltete mit nicht weniger als vier ausgewachsenen Bands eine bis dato noch nicht gesehene Mischung aus Elektronika und alternativen Musikstilen. Was nicht zu guter Letzt eine immense logistische Herausforderung für das Audioriver Team darstellte.

Doch der Reihe nach… Los ging es am Freitag um kurz nach halb vier. Buddy Peer und Kumpel Jens eingesackt und in Richtung Osten gestartet. Die A12 ist zu dieser Tageszeit schon lange das Reich der osteuropäischen 6-achsigen 40-Tonner. Und speziell das Teilstück zwischen Frankfurt bis kurz vor Poznan ist fahrerisch alles andere als ein Kleinod. Besonders nicht mit zwei ständig in Aktion tretenden Pionierblasen mit an Bord und einem liegen gebliebenen Truck 10km voraus. Kurz vor Poznan tritt dann wieder die Autobahn wie man sie kennt in Erscheinung. Allerdings teurer als bei uns… Bis zur Ausfahrt Koło mussten drei Mautstellen passiert, ergo 33 Zloty (ca. 10,50 Euro) bezahlt werden. Von Koło geht es dann über Dörfer, die mit Namen wie Gostynin irgendwie an sowjetische Feldherren erinnern, nach Płock, wo man beim Überqueren der Weichselbrücke schon einen ersten Blick auf das Festivalgelände werfen kann.

Pünktlich zu Martin Buttrichs Live Act angekommen, brachte dieser die Circus Stage (das Technozelt) kurz darauf schon ordentlich zum schwofen. Der Mann hinter Loco Dice und Timo Maas Produktionen spielte solide, verzettelte sich nicht und gab auch ein paar Zugaben, als es hieß, dass sich Agoria verspäte. Martin legte seinen Live Act derart sauber, um nicht zu sagen buttrichweich butterweich hin, dass man denken könnte, man hätte seine Stücke 1:1 wie auf CD gehört; nur halt auf einem großen Soundsystem.

Selbst im Technozelt konnte man in der Ferne die heftigen Bassattacken und anheizenden Rufe von Roni Size vernehmen. Agoria lies sich davon nicht beeindrucken und spulte eines seiner typisch eklektisch-perkussiven DJ-Sets runter, so wie man es z.B. von der “At The Controls” CD her kennt. Die von ihm sehr gern ins Rennen geschickten psychedelisch-pathetischen Geräusche und Flächen nahmen aber auch eine gehörige Portion Drive aus der bis dato dargebotenen Techno-Melange. Ok, die Menschen tanzten, das Zelt wurde nicht merklich leerer und es gab durchaus nicht wenige Stimmen, die Agorias Set als “Total flashend!” klassifizierten. Tja, Geschmackssache halt…

Ganz anders ging da Josh Wink zu Gange. Ein wenig selbstverliebt, aber der Kerl lieferte über zwei Stunden absoluteste Qualität in Sachen Groove. Spätestens bei Higher State of Consciousness flippte so ziemlich jeder aus und die Circus Stage verwandelte sich in ein Refugium rotierender Rhythmen. Klar das Josh, selbst als Loco Dice schon in den Startlöchern stand, nicht so wirklich aufhören wollte, war er es doch, der dem Freitag des Audioriver die technoide Krone aufgesetzt hat. Die Krönungszeremonie gefiel Wink sogar so gut, dass er Loco Dice anbot Back-2-Back zu spielen; was Dice aber verständlicherweise ablehnte.

Und dann rollten buchstäblich die Würfel… Bis dato gibt es wenig Musikalisches, was mich derart überraschte wie Loco Dice an jenem Abend. Fern von minimalem Geklöppel holte Dice eine kernig bassig tribale Urgewalt aus seinem Repertoire hervor und brachte eine Welle ins Rollen, die erst weit nach 7 Uhr, dem eigentlichen Ende des ersten Festivalteils, zum Stillstand kam. Ein Betriebswirtschaftler hätte Dice sofort das Prädikat “Der Kerl ist jeden Cent wert!” ausgestellt. Bewaffnet mit Sampler und Effektgerät rückte er der gespielten Musik derart intensiv zu Leibe, dass selten wirklich nur eine einzige Platte allein lief.

Die Stadt Płock verzeichnete wohl an jenem Wochenende einen riesigen Ansturm. Künstler, Organisation und Gäste des Audiorivers, mussten genauso untergebracht werden wie der Rummel rund um eine Vorausscheidung der Wahl zur Miss Polen. Die normalen Festivalbesucher blieben da ein wenig auf der Strecke, denn Hotels und Pensionen waren restlos ausgebucht. Kurzfristig erweiterte das Festivalteam den Zeltplatz und buchte ein ohnehin durch die Ferien leer stehendes Internat als Unterbringung. Doch um kurz nach 6 Uhr morgens war auch dieses schon restlos belegt, so dass meiner Einer und Freunde sich ein ruhiges Plätzchen suchten, um den fehlenden Schlaf unter freiem Himmel nachholen zu können. Mit den Worten “Ah kiek mal, ne ruhige Sackgasse…” landeten wir dann unbewussterweise vor den Toren des Segelvereins Petrochemie LK Płock. Egal, unsere Körper forderten Schlaf. Der Blick des Hauswartes hingegen sprach Bände, so etwas wie: Man, jetzt pennen die Deutschen schon in meinem Vorgarten :-)

Gegen Mittag setzte dann das ein, was den Samstag über bis in den Sonntag das Klima dominieren sollte: Nieselregen, mal fein, mal stärker. Der Vorteil: der Strandsand staubt nicht mehr so immens. Der Nachteil: die laue Sommernacht wurde recht frisch, im Circus Zelt schlug es um in Schwüle. Dort in der Nacht zu schwitzen war bereits am Nachmittag schon vorprogrammiert. Als ich kurz vor 18 Uhr auf dem Festivalgelände eintraf, war man schon kräftigst am ackern was den Soundcheck angeht. Die Mikros mit repetitivem “You guys suck!” zu prüfen, nahm die Wasserschutzpolizei wahrscheinlich ein wenig zuuu persönlich ;-) Pünktlich um 19 Uhr ging es dann los, als nacheinander die beiden polnischen Urgesteine Cube und Fresh, zwei DJs die den Abend nicht hätten perfekter auf die Bahn bringen können, den Kick-Off ablieferten.

Gleich danach ging es mit Damian Lazarus in die Vollen. Nach ein wenig Minimal hatte es speziell die letzte halbe Stunde des gebürtigen Londoners und Chef des Labels Crosstown Rebels in sich. Nicht enden wollende Bassattacken gewürzt mit verspielten Schwaden dominanter Acid-Elemente. Auch wenn für Lazarus die direkte Weiterfahrt nach Berlin, zur Bar25 angesagt war, lies er sich es nicht nehmen die gesamte weitere Nacht an vorderster Front mit dabei zu sein; tanzend, von Extrawelt bis Villalobos.

Zeitgleich startete mit ein wenig Verspätung das Programm auf der Hauptbühne. Zunächst wärmte das Duo Electricity die Leute mit teilweise recht einfach gestrickten, aber funktionierenden Remixen das Publikum auf. Offensichtlich ist die Anhängerschaft von endlosen “I wear my Sunglasses at Night” Gesängen wohl doch nicht so klein wie anfangs vermutet. Während ein anderes endloses Vocal, sprich das “Doo Doo Doo” des letzten Electricity Remixes, noch in den Ohren nachhallte, machte sich Backstage mit A Mountain Of One die erste Live-Perle des Abends für den Auftritt auf der Hauptbühne bereit.

Für die Jungs war es nicht nur der erste Auftritt in Polen, es war vielmehr der erste Auftritt in einer völlig neuen Bandkonstellation. Vom Vice übers Fact und UnCut, all diese Magazine empfehlen A Mountain Of One. Und auf dem Audioriver, als sie ihre Melange von treibend rockigen aber auch episch-melancholischen Klängen frei ließen, lieferten sie einen hieb- und stichfesten Beweis ab, warum all jene Fachmagazine die Londoner momentan derart in den Himmel heben. Man stelle sich den bereits großartigen Sound Pink Floyds vor und würze es mit ein bisschen mehr Elektronika: das ist A Mountain Of One.

Gleich danach gab es ein weiteres “Hut ab vor dieser Leistung” zu verteilen, diesmal an die Schweizer Truppe Kalabrese and his Rumpelorchestra, dass alles Andere als rumpelig spielte. Im Gegenteil. Derartige Sattelfestigkeit beim Spielen diversester Instrumente sieht man selten. Besonders der gekonnte Einsatz von Posaune und Percussions nebst elektronischen Beats und sinnlichem Gesang machte Kalabreses Darbietung zum echten Hingucker, oder besser gesagt Hinhörer :-)

Und dann kam es zur Zerreißprobe… Extrawelt nahmen mit in einem beispiellos kickenden Live Act die Circus Stage auseinander. Niemand, absolut niemand stand mehr still. Der Zaun zur Bühne war restlos von zuckenden Leibern okkupiert. Genau zur gleichen Zeit rockte aber UNKLE die Hauptbühne nieder; und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Gitarrist, eine echte Rampensau, lieferte eine Show par excellence… Wild auf der Bühne rumspringend saß jeder Saitengriff mit nahezu chirurgischer Präzision. Fehlte nur noch Stage Diving :-) Es muß wohl Schicksal gewesen sein meine Hymne “Reign” nicht verpasst zu haben… UNKLE live – Weltklassemusik, präsentiert in Weltklassemanier – Wahnsinn pur!

Doch fix wieder rüber ins Technozelt. Extrawelt war immer noch am Klänge zusammenschrauben, denn irgendwie war Guy Gerber nicht aufzutreiben… “Wat soll’s! Machen wa noch eins :-)” sagten sich die sympathischen Hamburger und lieferten weiterhin Abfahrt pur. Zusammen mit Guy Gerber waren Arne und Wayan der Höhepunkt in Sachen Circus Stage. Gerahmt wurde das Ganze von fünf großen Leinwänden, die den VJs eine riesengroße Spielwiese für ihre wirklich sehr geil zusammengestellten Visuals boten.

Kurz nach Extrawelts Zugabe schlug Guy Gerber dann nicht nur auf, sondern auch gleich voll ein. Mit einem schönen Intro und ohne langes Federlesen packte der Israeli jene hypnotischen Klänge und Grooves aus, für die er weltweit bekannt ist. Gespickt mit eklektisch-mystischen Flächen und Vocals verging sein ca. anderthalbstündiger Live Act leider viel zu schnell. Sogar Dave Seaman lies es sich nicht nehmen in der Circus Stage vorbeizuschauen und sich mit Gerbers Treiben für seinen Gig auf der Hauptbühne einzugrooven.

Apropos Hauptbühne. Dort war nach dem Rock-Spektakel von UNKLE der Auftritt des 2020 Soundsystem vorgesehen. Der wieder einsetzende Nieselregen bescherte der Truppe um Ralph Lawson ein wenig Besucherschwund. Vielleicht hatte sich auch rumgesprochen, dass im Technozelt buchstäblich die Post abging. Immerhin war die Circus Stage komplett bis zum Rand gefüllt. Positives Fazit einer meiner Freunde und zugleich Audioriver-Debütant: trotz der vielen Menschen hatte jeder genug Platz um richtig abzufeiern.

Neben viel guter Musik gab es für die Besucher auch eine entscheidende Neuerung: der Eintritt kostete für beide Tage nunmehr 35 Zloty. Aber das ist kein Grund zur Sorge, denn der Eintritt veranlasste natürlich den Einen oder Anderen Liebhaber öffentlichen lautstarken Biergenusses Zuhause zu bleiben. Auf der anderen Seite traf man Menschen, die bereit sind für Qualität auch mal ein bisschen was springen zu lassen. Und angesichts eines derart durchdachten und qualitativen Line-Ups sind umgerechnet 11 Euro nun wirklich alles andere als teuer.

Das Wetter aber lies sich nicht kaufen… Zum Glück ging der ganz große Guss, mit Sturmböen und ein wenig Hagel über Warschau runter. Dennoch, es stieg Nebel auf und von oben kam’s kalt. Jacke und Regenschirm waren fällig. Die Fläche vor der Hauptbühne zu überdachen ist unmöglich. Und so spielte Dave Seaman grandios rockig auf; er im Trockenen, die Leute im Nieselregen.

Es dauerte nicht lange und dann war auch schon “Riiiiiiiiiicardo!” angesagt… Villalobos ist für die Polen eine Art Volksheld; ein Magnet par excellence. Nicht wenige unserer östlichen Nachbarn kommen extra nach Berlin um ihren Liebling möglichst 24h am Tag auflegen zu hören. Kaum zeigte sich der Chilene auf der Bühne des Techozeltes, ging ein unbeschreibliches Johlen durch die Massen. Was dann in der Circus Stage abging kann sich jeder vorstellen und bedarf keiner weiteren Beschreibung ;-) Auf der Hauptbühne hielt Seaman locker mit der von Extrawelt und Gerber initiierten Abfahrt Schritt… Ich persönlich hätte ihm gern noch länger zugehört, doch der Rückweg nach Berlin stand schon auf dem Plan, denn morgens sind die Ost-West-Straßen noch 40-Tonner-frei…

Fazit: Ein geniales feines Festival mit super familiärer Atmosphäre und großartigem Booking. Extra aus Berlin anzureisen hat sich allemal gelohnt. Und ich bin mir ganz sicher, dass es nächstes Jahr am ersten August-Wochenende wieder “It’s Audioriver!!!” heißen wird :-)

Fazit2: Das die Audioriver Jungs verdammt gastfreundlich sind, wußte ich schon lange. Der konfuse Akkreditierungsprozeß fürs polnische Creamfields 2008 zeigte auf, in welcher Liga das Płocker Festival mittlerweile spielt. Gute bis sehr gute Organisation, keine geltungsbedürftigen Verpeiler im Festivalteam, keine Nötigung positiv schreiben zu müssen und herablassendes Behandeln ausländischer Besucher ist auch ein Fremdwort. Danke!

Verwendete Fototechnik: Canon EOS 1D Mark III, Canon EF 16-35 2.8L II, Canon EF 24-70 2.8L, Canon EF 50 1.4, Canon EF 85 1.2L, Canon EF 70-200 f2.8L IS USM

Freitag
Main Stage
20:00 21:30 Harper
21:30 23:00 Cls & Wax + K-Size
23:00 00:00 Visionary Underground
00:00 01:15 Roni Size Reprazent
01:30 02:30 Jungle Drummer vs DJ Fu feat MC LowQui
02:30 04:00 Danny Byrd
04:00 05:00 Sesiz
Circus Stage
19:00 21:00 Optymist
21:00 22:00 Petter von Coil vs Hagal
22:00 23:00 3 Channels
23:00 00:30 Martin Buttrich live
00:30 02:00 Agoria
02:00 04:00 Josh Wink
04:00 07:00 Loco Dice
07:00 08:00 SLG
Samstag
Main Stage
20:00 21:45 Electricity (Bert & Igor)
21:45 22:45 A Mountain Of One
23:00 00:00 Kalabrese and his Rumpelorchestra
00:15 01:15 UNKLE live
01:30 02:30 20:20 Soundsystem live
02:30 05:00 Dave Seaman
05:00 06:00 Quantum Mekk
Circus Stage
19:00 20:00 Cbass & Mikobene
20:00 21:00 Cube
21:00 22:00 Fresh
22:00 00:00 Damian Lazarus
00:00 01:30 Extrawelt live
01:30 03:00 Guy Gerber live
03:00 07:00 Ricardo Villalobos
07:00 08:00 Poziom X

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