Das Audioriver Wochenende 2010 – Wenn alle Dämme brechen…


Samstag

Mit Silence Family ging erstmals ein Act aus dem Baltikum, genauer gesagt aus Litauen an Start. Die ersten Beats riefen verführerisch zur Hauptbühne, im weiteren Verlauf ihres Auftritts flachte die Energie dann allerdings ein wenig ab und der Sound wurde ein wenig zu redundant und berechenbar. Nichts desto trotz vereint Silence Family ein paar der interessantesten Acts aus Litauen und ihre Art männlich-markante Vocals in knackige House Beats zu hüllen sollte selbst Vocalverächter überzeugen.

Der Freitag stand klar im Zeichen britischer Dominanz, ein gewisser ausgleichender Samstag durfte also nicht fehlen. Nicht nur geschichtlich gesehen wäre ein Franzose natürlich wie geschaffen für die Rolle jenes Gegenparts und niemand anderes als der flamboyante Laurent Garnier und sein Techno, House und funky Jazz-Rock verschmelzen lassender Liveact konnte fürs Audioriver gewonnen werden. Laurent ist ein Phänomen… Egal ob als DJ oder live, sein musikalisches Verständnis gepaart mit seiner Passion und Ausstrahlung schwappt sofort aufs Publikum über. Sofort brennt sich bei allen Beteiligten ein dickes Grinsen ins Gesicht und das Twistbein fängt derart an zu zucken, dass man die Kamera in die Ecke packen und tanzen muss. Es ist einfach nur großartig den Franzosen wie angezündet über die Bühne flitzen, und dann wieder an Knöpfen drehend und schraubend zu sehen. Kameras wären eh überfordert gewesen davon ein scharfes Bild schießen zu können… Das 2010er Audioriver hatte die Ehre einen jener grenzenlosen Auftritte des französischen Freigeists erleben zu dürfen: Polen, 0:00 Uhr – der Beat sitzt – Musik-Laboratoire Garnier

Eigentlich gab es neben Hawtin und Hybrid noch einen anderen Personenkreis, der das Audioriver ein weiteres Mal beglückte. Bereits 2006 als Teil von Cobblestone Jazz und auch im Vorjahr rockte Colin de la Plante als The Mole das Technozelt und offensichtlich hat es ihm so gut gefallen, dass er 2010 als Teil von The Modern Deep Left Quartet zurückkehrte und mit seinen Kompagnons Mathew Jonson, Danuel Tate und Tyger Dhula (ebenfalls Teil von Cobblestone Jazz) die Circus Arena unglaubliche 3 Stunden lang verzauberte. Der Sound der vier geht gut ins Bein, treibt einen tanzend durch den Strandsand und am Tag danach weiß man woher der Muskelkater herrührt. Sicherlich sind Sie nicht die ersten die versuchen Techno in Einklang mit organischen Musikrichtungen zu verknüpfen, man erinnere sich nur an Carl Craigs Innerzone Orchestra. Der Auftritt der Jungs wirkt einstudiert und vielleicht ein wenig statisch, spätestens wenn aber wieder Vocoder und die sich nach unten in den Boden schraubenden Old School Synths zum Einsatz kommen, weicht allerorts jegliche unnötige Ernsthaftigkeit aus den Gesichtern und die gute Laune regiert.

Was haben Newmie von Baywatch und Richie Hawtin gemeinsam? Richtig, sie waren von Anfang an dabei. Von Anfang an sollte und wollte man auch den Live Act von Hawtins Projekt Plastikman verfolgen. Derart gerammelt voll habe ich das Technozelt noch nie erlebt. Irgendwann kam das Kommando “Open!”, der Vorhang fiel und dann rollte irgendetwas mit der Wucht der 6. Russischen Panzerdivision über uns hinweg… In 15 Jahren Techno, satt gespickt mit Festivals und Clubkultur, habe ich derartiges noch nicht erlebt.

Die optische und akustische Omnipotenz des Plastikman Liveacts suspendiert nahezu gänzlich alle allgemeingültigen Regeln von Raum und Zeit und bringt den Zuschauer nah an die Grenzen des geistig Erfassbaren; was nicht zuletzt dem grandiosen Soundsystem im Technozelt zuzuschreiben ist. Auch wenn die Animationen manchmal ein wenig wie Windows Media Player wirken, so fegt einen die Bassgewalt buchstäblich weg; Haare und Zwerchfell fangen an zu vibrieren, die Kinnlade geht runter und man staunt einfach nur noch… Sprachlosigkeit garantiert!

Die beiden Brooklyner Morgan Geist und Darshan Jesrani verstehen wie kein Zweiter wie man die guten alten Zeiten des Disco Funk in Einklang mit aktuellen elektromusikalischen Einflüssen bringt. Ob Donna Summer oder Prince, in Metro Areas poppig angehauchter Mischung aus Funk und House erwachen stilistisch gesehen all die großen Namen wieder zum Leben mit denen man einst aufwuchs. Nicht zuletzt das Revival nach Michael Jacksons Tod zeigte, dass jene Musik alles andere als aus den Köpfen verschwunden ist und Morgan und Darshan zögerten nicht lange und verpassten dem Audioriver die geniale Atomsphäre einer bis in die letzten Ritze groovenden New Yorker House Disco der 70er/80er Jahre.

In Polen braucht man die m_nus DJane und Landsmännin Magda niemandem vorstellen. Auch wenn sie eigentlich in den Staaten aufwuchs, so verwandelte sich das Audioriver für sie in nur wenigen Sekunden in einen frenetisch gefeierten Auftritt vor heimischer Kulisse. Direkt im Anschluss an ihren Mentor Richie Hawtin gesetzt, setzte sie auch sofort das Technozelt in Brand. Gemessen an Erlebnissen aus dem Watergate & Co., fand ich persönlich ihr Set allerdings eher ein wenig unterkühlt und wenig inspirierend. Vielleicht lag es aber auch an Richie Hawtin, denn Plastikman hatte einige Fragezeichen und eine für die nachfolgenden Acts schier unüberwindbare Meßlatte hinterlassen.

Mehr aus dieser Kategorie