1986 – Die nukleare Hölle Tschernobyls und der Fuchs der Geisterstadt Prypjat

In der Nordukraine, an der Grenze zu Weißrussland liegt die Geisterstadt Prypjat. 1986 ereignete sich dort, lediglich 120km Luftlinie von der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt, eine Katastrophe und Tragödie epischen Ausmaßes als der nukleare Kern des Reaktorblocks 4 des nahegelegenen Atomkraftwerks Tschernobyl schmolz und eine Explosion verursachte. Das von der Detonation in die Atmosphäre geschleuderte strahlende Material verseucht die Umgebung für Jahrhunderte und zog auch Zentraleuropa in Mitleidenschaft. Das Ausmaß beförderte den GAU zum Super-GAU und das Dörfchen Tschernobyl war in aller Munde, weltweit. Doch es blieb nicht der einzige größte anzunehmende Unfall.

Auf Tuchfühlung mit dem Katastrophenreaktor

Leonid ist der russische Homer Simpson. Nicht gelbhäutig, nicht glatzköpfig, alles andere als dumm aber ebenso liebenswürdig, lustig und er arbeitete in einem Kernkraftwerk. Auch er hat einen kleinen Sohn der die nähere Nachbarschaft heimsucht, wenn auch bedeutend stressfreier als Bart. Leonids Springfield hört auf den Namen Tschernobyl, was im Ukrainischen (Чорнобиль, Tschornobyl) eigentlich die Pflanze Wermut bezeichnet.

Seit dem 26. April 1986, seit 29 Jahren – was ein wenig mehr als der Halbwertzeit von 90Strontium entspricht – ist dieses ukrainische Kaff jedermann ein Begriff. Viele wissen es lag in der Sowjetunion, ein paar Wenige können es präziser, ca. 120 Kilometer Luftlinie von der Hauptstadt Kiew entfernt verorten. Es ist Heimat von fünf nuklear betriebenen Reaktoren; einer davon war im Bau, während die anderen Strom erzeugten.

Eigentlich hätte das Kernkraftwerk Prypjat heißen müssen, liegt es doch zum einen direkt am gleichnamigen Fluss. Die Stadt Prypjat wurde erst später ins Rennen geschickt, als die Entscheidung fiel Tschernobyl zum größten Nuklearstandort der Sowjetunion auszubauen. Wir ehemalige DDR-Bürger kennen derartige Städte noch live und in Farbe: Arbeiterschließfächer wie z.B. Eisenhüttenstadt, die es nur der Industrie wegen gab. Auch wenn es im Gegensatz zu Eisenhüttenstadt keinen Paul van Dyk (alias Matthias Paul) hervorgebracht hat, so war Prypjat eine solche Stadt.

Die Pläne für Tschernobyl sahen vor unglaubliche 12 Reaktoren am Fluss Prypjat aufzubauen und in Betrieb zu nehmen. Die Stadt Prypjat wäre dann wiederum als Heimat für über 300.000 Menschen ausgebaut worden. Fünf Bezirke hatte Prypjat schon, ein sechster Hochhausdschungel guckte bereits um die Ecke, doch dann kam der 26. April 1986 und die Marke von 01:23:48 Uhr

Ein Experiment in Kombination mit einem Konstruktionsfehler führte zu einer Explosion nebst Kernschmelze. Die Explosion ließ den Sicherheitsdeckel in den Reaktor fallen, zerstörte und öffnete diesen dabei zusätzlich, während das reaktorinterne Graphit Feuer fing um als riesiger Kamin die radioaktiven Elemente in den Himmel zu pusten. Perfekt war die Katastrophe.

Die herbeigerufenen Feuerwehrmänner waren die ersten vor Ort. Sie berichten von Flammen, die in all nur erdenklichen Farben und teilweise bis zu 200 Meter hoch loderten. Leonids Schilderung verstummt, er ringt nach Fassung und ergänzt, dass er heilfroh war keinen Dienst gehabt zu haben, sprich Zuhause gewesen zu sein, in Prypjat, bei seiner Familie.

Überall in Prypjat, auf dem Kraftwerksgelände und auch in Tschernobyl sieht man das Atom als Zeichen der friedlichen Nutzung der nuklearen Energie und selbst in Kiew ist es Thema der Metrostation Schuljawska. Allerdings hat das Atom dem Menschen bereits mehrfach gezeigt, dass es nicht allzu friedvoll ist. Wer bei den nuklearen Havarien „die Nase vorn hat“, lässt sich schwer sagen.

Die Luftbilder des eingerüsteten rot-weißen Schornsteins und der Reaktorruine von Tschernobyl haben sich genauso ins kollektive Gedächtnis gebrannt, wie das aus weiter Entfernung aufgenommene, verschwommene Video der Explosion von Fukushima Daiichi I, als die Knallgasexplosion das Gebäude sprengte und das Wort Kernschmelze via Twitter in Sekunden um die Welt lief.

Nachrichten hin, soziale Netzwerke her, echte Lehren und daraus resultierendes Handeln ist auch nach Fukushima Mangelware. Und so trieb unser Einheitskanzler Helmut Kohl auch nach Tschernobyl den Bau weiterer Atomkraftwerke in Westdeutschland freudig voran.

Den Schrecken der Nuklearkatastrophen übertrifft nur die menschliche Verlogenheit, denn obwohl das Kind schon längst in den Brunnen gefallen ist, wurde unentwegt versucht die Realität an den neuesten Stand der Lügen anzupassen.

Alle logen bis sich die Balken bogen, die Sowjets bei Tschernobyl und Kyschtym, die Japaner (in persona von Tepco) bei Fukushima, die Briten bei Sellafield, die Amerikaner bei Harrisburg und Los Alamos. Die Liste ist lang, leider. Die Amerikaner sind aber die Einzigen weltweit, die die Kraft der Kernschmelze kriegerisch zum Einsatz brachten, um am 6. und 9. August 1945 in Hiroshima und Nagasaki vorsätzlich Zivilisten zu töten.

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