1986 – Die nukleare Hölle Tschernobyls und der Fuchs der Geisterstadt Prypjat

Die Geisterstadt Prypjat – Teil 2

Apropos Lebensmittel. Der Osten hat damals Tomaten und Gurken, die er nicht an den Westen verkaufen konnte, seinen eigenen Leuten untergejubelt. Das radioaktive Isotop 137Caesium hat eine sehr gute Wasserlöslichkeit und ist eines der vom Tschernobyl-Reaktor produzierten und freigesetzten Hauptspaltprodukte. Tomaten und Gurken bestehen zu großem Teil aus Wasser. Das jenes Gemüse nicht ok war, ist sehr wahrscheinlich. Allerdings gibt es da auch ein paar andere Ungereimtheiten.

Die radioaktive Wolke regnete sich über Süddeutschland ab. Ostdeutschland blieb bis auf ein paar Flecken im Nordwesten und den Süden verschont. Der Norden Ostdeutschlands, ungefähr auf Höhe der Müritz, wo man Gemüse anbauen kann, ist definitiv mit Cäsium-Radionukliden kontaminiert worden. Was den stärker kontaminierten Süden anbelangt, nun ja, so sind Thüringer Wald und Erzgebirge damals wie heute nicht so wirklich Marktführer in Sachen Gemüseanbau ;-) Woher kam also die Gemüseschwemme, das kontaminierte Zeug, das obendrein teilweise sogar in Plastik verpackt war?

Viel Gemüse, den DDR-Bürgern z.T. unbekannt sowie Plastikverpackungen. Das passt in ungefähr so zusammen wie Grönland und natürlich wachsende Kokospalmen. So zum Beispiel tauchte bis dato unbekannter Broccoli im Chernobyl-Sommer in der Schulspeisung auf, danach nie wieder. Hundefutter in Kantinen, Pferdefleisch in Lasagne, kontaminiertes Milchpulver für Jamaica, (Gift-) Müllexporte in die DDR – Gott, die Liste der immer und immer wieder ans Licht kommenden (westlichen) Lebensmittelskandale ist endlos lang. Vor diesem Hintergrund und der o.a. Ungereimtheiten wegen hege ich daher eher den Verdacht, dass unsere eigenen BRD-Landsleute aus Angst vor (metaphorischen) 2.50 Euro Verlust und Gemüseentsorgung lieber ihre eigenen Landsleute (die DDR wurde ja deswegen lange Zeit nicht anerkannt, weil die BRD dieses Gebiet für sich als Gesamtdeutschland reklamierte) ans nukleare Messer lieferten.

Tja, so sind sie die kapitalistischen Gutmenschen. Sie rennen sonntags wie blöd in die Kirchen. Wählen christlich-demokratisch oder christlich-sozial, wenn es aber ans Tagesgeschäft geht, dann vergessen sie schnell jegliche Nächstenliebe, Respekt vor dem Gegenüber und gesellschaftliche Werte. Dann ziehen sie einem die Klinge durch den Hals nur eines Hauch von Millimeter Vorteils wegen; kontaminieren auf diese Weise zutiefst eigennützig und asozial ihr menschliches Umfeld. Aber wer will ihnen so etwas verdenken? Sie wuchsen auf in einem Umfeld von Gier, Opportunismus, Entsolidarisierung und das Belügen ihrer selbst. Tschernobyl legte diesen zweifelhaften Wesenszug bereits früh offen und nachfolgende Lebensmittelskandale untermauern dies.

Unser Tag in Prypjat geht zu Ende. Wir erklimmen eines der 16-geschossigen Hochhäuser, genießen den Sonnenuntergang, blicken gen Reaktorruine und reflektieren innerlich das Gesehene. Eine trügerische Ruhe liegt über der Stadt, während der omnipräsente Kuckuck im Hintergrund immer noch beschäftigt ist mein Leben zu verlängern. Der Gedanke, dass von hier aus, vom 5 Kilometer von mir entfernten Reaktor, 3.900.000 km² Europas, also circa 40 Prozent der Gesamtfläche unseres Kontinents, mit mindestens 4 kBq/m² 137Cäsium kontaminiert wurden, sprengt jegliche Vorstellungskraft. Allzu lang dürfen wir aber nicht bleiben, denn ab 20 Uhr gilt die Ausgangssperre die mit militärischen Mitteln kontrolliert wird.

Am nächsten Tag geht es wieder in die Geisterstadt. Wir arbeiten uns vom nordwestlichen Ende her durch die Gebäude. Von dort ist die weißrussische Grenze übrigens nur 15 Kilometer entfernt. Auch die Weißrussen sind massiv vom Tschernobyl-Unfall betroffen. Die Region um Gomel weist auch heute noch eine Kontamination auf, die nicht feierlich ist. Auch die Weißrussen haben eine Sperrzone errichtet. Wir besuchen noch einmal die Schwimmhalle, dann das Kinderkrankenhaus, einen zweiten Kindergarten sowie den Hafen und das dortige Kaffee, von wo Tragflächenboote gen Kiew fuhren.

Unweit davon sind die Musikschule sowie das KBO-Gebäude zu finden, wo Handwerker wie Uhrmacher und Friseure ansässig waren. Dann nimmt mich Misha ins Krankenhaus mit. Wir durchstöbern die Etagen beginnend im Dachgeschoss. „Willst Du mal etwas richtig Krasses sehen?“, fragt er mich. Meine Antwort könnt Ihr Euch denken ;-) An einen dreckigen Lappen im Keller hält er sein Strahlenmessgerät. Das Ding heult auf als gäbe es kein Morgen. Fette 450 µSv/h werden angezeigt. Zur Erinnerung, die Tagesdosis natürlicher Strahlung für einen Menschen beträgt ~4mSv pro Jahr, also 11µSv pro Tag. Der „Lappen“ hat es in sich. Er ist Teil der Bekleidung der Feuerwehrleute die damals als erste zur Unfallstelle gerufen wurden. Die Männer der Werksfeuerwehr sind hochgradig verstrahlt ins Prypjater Krankenhaus eingeliefert worden. Ihre Kleidung schlummert immer noch als böse Falle im Keller dieses Hospitals.

Auch wir Berliner haben einen Reaktor in unserer Nähe. Er dient zwar nicht der Energieerzeugung, unterliegt damit glücklicherweise nicht den psychopatischen Entscheidungen von Vattenfall, RWE & Co., ist aber ein Versuchsreaktor mit dem fleißig Experimente (Tschernobyls Reaktorexplosion passierte eines Experiments wegen) durchgeführt werden. Das ehemalige Hahn-Meitner-Institut heißt heute Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie. Deren Neutronenquelle ist weder gegen äußere Einwirkungen noch gegen menschliche Dummheit geschützt. Knallt es dort, dann nutzen den ~3,5 Millionen Berlinern im Ernstfall dann auch Jod-Tabletten wenig.

Den 29. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe, ein Sonntag, nahm das IPPNW zum Anlass im Berliner Mauerpark auf die Gefahr dieses Helmholtz-Reaktors und natürlich auf die ständige nukleare Gefahr hinzuweisen. Eine gut gemeinte Aktion, die bei den Hipstern und der egozentrischen Generation Selfie erwartungsgemäß auf wenig fruchtbaren Boden fiel, mangels logischer wie sozialer Intelligenz. Die Ärzte des IPPNW durften sich sogar anhören, warum man andern Leuten den Sonntag versaut. Schon interessant, wer da die Berliner Urbevölkerung aus ihren angestammten Gebieten verdrängen durfte, nur weil man mehr Apple und McDonalds kaufen kann als Oma Else. Dieser Gesellschaft geht es eindeutig zu gut, was sich im gesamthistorischen Kontext als knallharter Bumerang erweisen wird.

Was aber mit dem nuklearen Müll? Die Diskussion ums Bergwerk Asse offenbart die menschliche Dummheit. Obwohl, so dumm wird da gar nicht vorgegangen. Analog der Methode „Aus den Augen, aus dem Sinn“ wird der Atommüll irgendwo versteckt, sollen sich doch andere damit rumscheren. Wichtig ist nur, dass hier und jetzt ordentlich Gewinn gemacht wird. Der Verbraucher wird doppelt abgezockt, erst finanziell dann durch die Konfrontation mit atomaren Spätfolgen.

Auf dem Weg durch Prypjat fallen mir Graffitis neueren Datums auf. Sie sind versteckt, aber zu finden. Sie zeigen als Schatten oder aber farbenfroh Kinder, wie sie damals wie heute in Prypjat gespielt haben könnten. Von ~50.000 Einwohnern waren circa 7000 Kinder. Und genau diese Symbolkraft bringt es auf den Punkt. Für die Reaktorkatastrophe bezahlen in erster Linie nachkommende Generationen. Dieser nukleare Drops ist nicht gelutscht nur weil das Thema nicht mehr in den Medien auftaucht. Gleiches gilt für die Nuklearkatastrophe von Fukushima Daiichi.

Der Mensch unterliegt einer Evolution. Die Geschwindigkeit dieser Evolution hat jedoch in den letzten Jahren rasant zugenommen. Unser chemisches Umfeld (z.B. Kunststoffe) hat sich grundlegend geändert. Wir als Generation sind vollends zwischen die Mahlsteine dieses Fortschritts geraten und haben die Nebenwirkungen auszutragen. Hormonaktive Substanzen sind genauso gefährlich wie Radioaktivität. Und so ist kleines Stück Tschernobyl in jedem von uns enthalten. Wie singt Kraftwerk doch so schön? „Strahlentod und Mutation durch die schnelle Kernfusion.“

„Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche Dummheit. Beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“ – Albert Einstein

Ich mag dieses Zitat. Albert hat den Menschen auf seinen buchstäblich kleinsten Nenner gebracht, doch auch in Sachen Arroganz freien Handelns bringt es der Homo Sapiens nicht sonderlich weit. Wir Zweibeiner halten uns für die Größten, sind nicht nur der Meinung andere Staaten überfallen und ihnen die Demokratie aufzwingen zu müssen, sondern pumpen auch, wie ein Energiejunkie auf Entzug, Chemikalien in den Boden um an den letzten Furz Gas ranzukommen und sind der Meinung die Kraft des Atoms zu beherrschen.

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