Minsk – Refugium der sozialistischen Moderne

Weißrussland öffnet sich gegenüber Besuchern und so kann man neuerdings mit einem Visa on Arrival über den internationalen Flughafen von Minsk einreisen und sich das Land anschauen. Die Metro der belarussischen Hauptstadt lud zum Fortsetzen meiner Fotoserie über europäische U-Bahnen ein und die Architektur der Stadt erzählt sowohl vom Krieg und sozialistischen Nachkrieg, der sozialistischen Moderne.

Ein weißrussischer Morgen

An diesem jungen Sonntagmorgen im April wabern noch letzte Fetzen Frühnebels zwischen den typischen Plattenbauten der sowjetischen Nachkriegsära hin und her, aber sonst ist es klar, sonnig und noch ein wenig kalt. Des Wochenendes wegen wälzt sich die halbe weißrussische Hauptstadt noch in den Betten statt die Straßen zu bevölkern und so kann ich einen der Höhepunkte der Minsker postmodernen sozialistischen Architektur ohne Menschen in Augenschein nehmen: das gewaltige Relief „Solidarität“ von Anatol Arcimowicz. Die kommunistische Bronzeplastik prangt an der Fassade des Dom Modui (Дом моды), dem Haus der Mode, wo ein Stockwerk tiefer bereits die ersten kapitalistischen, frittierten Hühnchen des Tages über die Fast Food-Theke gehen. Was für ein Kontrast…

Der frühe Morgen ist auch perfekt fürs Metro fotografieren, denn im bis dato einzigen Umsteigebahnhof der Stationen Kastrynickaja und Kupalaskaja wuseln täglich tausende Menschen von A nach B und B nach A, was mein auf Menschenleere abzielendes europäisches U-Bahn-Fotoprojekt torpediert hätte. Aber so sind weit und breit nur wenige Seelen zu sehen und ich kann die Metro Minsk ins Projekt aufnehmen.

Dank der Menschenleere komme ich mit dem Ablichten der U-Bahn-Stationen sehr gut voran, denn wieder einmal überzeugt eine Metro sowjetischen Vorbilds durch einen die Sache voranbringenden Takt von 3 statt 10 Minuten, selbst am Wochenende. Ich treffe mich mit Dima den ich in Berlin kennengelernt habe. Er wohnt eigentlich in Mogiljow, das fast 3 Autostunden entfernt liegt, aber um eine Bekanntschaft mit jemandem aus dem „goldenen Westen“ zu pflegen nimmt er das auf sich. Die weißrussische Jugend ist hungrig auf Kontakte und zeigt sich egal wo man hinkommt offen und freundlich. Auch die Älteren sind alles andere als grummelig, was Slaven ja gern mal an den Tag legen ;-)

Zusammen ziehen wir durch die Stadt. Dabei zeigt mir Dima neben wenigen Gebäuden mit klassischer Architektur vor allem die Bauten im Zuckerbäckerstil Stalins und des postmodernen Sozialismus. Vom Hotel Belarus aus betrachtet, offenbart vor allem der Nordosten der Stadt ein Bild, das die Einheimischen nur als „Soviet Brutalism“, sprich sowjetischen Brutalismus bezeichnen, da sich ein Plattenbau in den nächsten einhakt. Minsk wurde vom Zweiten Weltkrieg hart getroffen. Die wenigen verbliebenen intakten Gebäude wurden dann wiederum von den Sowjets platt gemacht, getreu der Philosophie: „Etwas wunderbares Neues kann nur entstehen, wenn man das Alte ausnahmslos zerstört.“

Good Bye & Hello, Lenin!

Fotografisch sind aber vor allem jene Gebäude interessant, die durch Wandbilder, Plastiken oder Schriftzüge einen klaren Sowjetbezug zeigen. Das ist zeigt die eigentliche Geschichte und hebt vom Rest ab, denn der Westen ist mit seinen Architektursünden nicht besser. Man braucht bloß mal den Hauptbahnhof von Dortmund anzuschauen oder aber die Arbeiterviertel westdeutscher Städte wie Salzgitter zu besuchen. Und im Ost-West-Vergleich siegt dann klar der Osten, denn Minsk funktioniert und ist unglaublich sauber.

Unser Stadtbummel führt uns dabei entlang des Prospekt Nezavisimosti, dem Unabhängigkeitsboulevard, zum Platz der Unabhängigkeit, wo die staatliche weißrussische pädagogische „Maxim Tank“ Universität zu finden ist. Vom einstigen Namen Lenin-Platz erzählt die noch heute vor dem benachbarten Parlamentsgebäude stehende, große Statue des kommunistischen Vordenkers. Unweit davon ist der Hauptbahnhof gelegen, auf den die Uliza Kirava zuläuft. Diese Straße wird von zwei Türmen im Zuckerbäckerstil gerahmt, so wie man es auch vom Chreschtschatyk in Kiew, von der Karl-Marx-Allee in Berlin und natürlich aus Moskau kennt, wo die sieben Schwestern das Stadtbild dominieren.

Minsk ist am Fluss Swislatsch gelegen. Folgt man diesem Wasserlauf, dann sieht man nicht nur das grüne Herz der Stadt, wenn man durch Gorki als auch Janka-Kupala-Park schreitet, sondern kommt auch mit dem zentralen Thema der (weiß-) russischen Identität in Kontakt, sprich dem Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg – oder Zweiten Weltkrieg, wie wir ihn nennen – wovon die Insel der Tränen, der Park des Sieges und das Museum für Kriegsgeschichte zeugen, um nur wenige zu nennen. Am Fluss liegt auch das Hotel Belarus mit seiner Aussichtsplattform.

Am nördlichen Ende der Swislatsch, wo der zweite Ring und der Boulevard der Arbeiter zusammenlaufen, erhebt sich neben einem riesigen Fahnenmast auch der neu erbaute Palast der Unabhängigkeit. In seinen Hunderten von verspiegelten Fenstern reflektieren sich die soeben aufgezogenen Gewitterwolken. In der Sichtachse zwischen dem Palast und dem Platz der Staatsflagge wurde wiederum das fünfeckige Ausstellungs- und Handelszentrum erbaut, auf dessen Platz sich Skateboarder treffen um im Takt der vom Wind klappernden Fahnenstangen ihre Jumps zu üben.

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