1986 – Die nukleare Hölle Tschernobyls und der Fuchs der Geisterstadt Prypjat

Prypjat – Die verlorene Geisterstadt

„Mein Glück war ein sehr gutes organisatorisches Talent zu haben. Ich musste also nur zwei Mal richtig ran, sprich aufräumen. Die vom Reaktor in die Umwelt entlassenen Teilchen schmeckten metallisch auf der Zunge und mein Mund brannte bis hinunter in die Magengegend als ob ich tagelang nichts getrunken hätte“, erinnert er sich weiter.

Die Winde trieben die Spaltprodukte des Reaktors in nord- und westliche Richtung. Sie verseuchten Prypjat und auch das sehr nahe Weißrussland. Prypjat selbst war zwar verloren, aber die Hauptbasis für alle Liquidatoren, während die Organisation und auch die Werksleitung im ca. 15 Kilometer entfernten Tschernobyl arbeiteten. Im Tschernobyler Kulturhaus fand auch der Prozess gegen die Unfallverantwortlichen statt.

Spätestens als mich mein Strahlenschutzoffizier Misha in die hermetisch abgeriegelte 30km Sicherheits- und dann in die noch striktere 10km Sperrzone Tschernobyls mitnimmt, geht mir der Arsch auf Grundeis, denn immerhin werde ich mich in den nächsten 2 Tagen im Gebiet einer der fürchterlichsten Ereignisse der Menschheit bewegen und dort sogar übernachten.

Am Checkpoint angekommen stürzt sich der Wachposten auf unsere Dokumente wie ein Besoffener auf einen sauren Hering, denn allein reisende Westler sind eher die Ausnahme. Die Sperrzone ist zwar weitestgehend dekontaminiert worden, böse Überraschungen aber, sprich Strahlungsnester, lauern überall. Lange Kleidung und festes Schuhwerk mit dicker Sohle sind Pflicht, denn Misha zeigt mir mehr als Besucher normalerweise zu sehen bekommen.

Besucher? Ja, Tschernobyl ist inzwischen ein touristisches Ziel. Über das Jahr verteilt besuchen mittlerweile ca. 30.000 Menschen dieses Gebiet. Über 95% davon im Rahmen einer Tagestour, ohne über Nacht zu bleiben. In Tschernobyl angekommen, geht ein markerschütterndes Geräusch durch den Wald. Es hat nichts mit Kernkraft oder Strahlung zu tun, aber mit dem Krieg der in der Ukraine stattfindet. Ein im Wald verstecktes Sonar läuft auf Hochtouren. Das damit verbundene Geräusch ist alles andere als angenehm.

Das Fotografieren in der Sperrzone ist mühsam. Die rund um Tschernobyl lebenden, zurück gekehrten Selbstversorger sind schwierige Charaktere. So auch Leonid, der seines stark entstellten Gesichts wegen nicht fotografiert werden möchte. Leute wie er haben uns Mitteleuropäern den Hintern gerettet. Die Kampftaucher z.B., die unter dem Reaktor das Wasser abließen, leben heute nicht mehr.

Ohne sie aber hätte es eine gewaltige Verpuffung gegeben, die schwerste Radioaktivität ins Herz Europas getragen hätte; als ob Berlin von 2-3 Atombomben getroffen worden wäre. Solche Leute sind Helden und verdienen einen Friedensnobelpreis, und kein Helmut Kohl (der die Reste der DDR von Gorbatschow in den Schoß gelegt bekam, nichts mehr machen brauchte) bzw. kein Barrack Obama (der mehrere Versprechen brach, Guantánamo offen hielt und den Drohnenkrieg ausbaute).

Doch zurück zum Unfall. Wie wichtig Fehlerkultur ist, zeigt sich vor allem in solchen Momenten. Man kann einen Arsch in der Hose haben und etwas zugeben, oder, aus welcher Motivation auch immer, anfangen zu lügen. Leider entscheiden sich 90% der Menschheit für den feigen verlogenen Weg, so auch im Fall Tschernobyl, wo bis in die Abendstunden des 26. April kühn behauptet wurde, dass alles schick und schön ist.

Ich habe viele in Berlin sowie in der Heimat lebende Russen und Ukrainer gefragt, wie sie Tschernobyl damals wahrgenommen haben. Durch die Bank weg wussten viele von Ihnen in den ersten Tag nicht, was dort eigentlich passiert ist. Die damalige Administration machte vom Unwissen Gebrauch und beorderte aus allen Teilen des Landes vorwiegend Männer, die bereits Kinder gezeugt hatten ins Katastrophengebiet.

Während die ~50.000 Einwohner Prypjats und später weitere ~115.000 Anwohner der eilig errichteten Sperrzone das Gebiet verließen, wurden über 600.000 Männer und Frauen in die Schlacht gegen den unsichtbaren Feind geschickt. Diese Menschen dämmten die Radioaktivität sowie kontaminierte Objekte ein. Sie schütteten den offenen Reaktor zu. Sie verhinderten das Durchbrechen der Kernschmelze in den Untergrund. Diesen Menschen verdanken auch wir Mitteleuropäer sehr viel.

Egal ob freiwillig oder befohlen, es gibt wohl nur wenige Nationen die eine solch außergewöhnliche Opferbereitschaft haben wie die damalige Sowjetunion, denn direkt am Reaktor zu arbeiten bedeutete den Tod. Wie genau sich die freigesetzte Radioaktivität auswirkte, lässt sich leider schlecht belegen. Er selbst hatte Glück, ist noch am Leben, aber viele der Kollegen Leonids sind bereits gestorben, offiziell an Herzleiden oder anderen normalen Krankheiten. Ein Schelm wer Böses denkt, ob solch einer Diagnose und solch einer verstrahlten Vergangenheit.

Bevor wir zum Kernkraftwerk kommen, durchfährt man die Gegend wo einst Dörfer wie Salissja und Kopatschi standen. Von Salissja sind noch ein paar Ruinen vorhanden, Kopatschi aber wurde unter großen Hügeln beerdigt. Jeder Hügel ziert ein Warnschild „Achtung! Radioaktivität!“ Mit Hot Spots um die 13-14 µSv/h ist diese Gegend bereits profund kontaminiert.

Einen kontrollierten kurzen Abstecher in den dortigen Kindergarten wagen wir dennoch. Aber nur, weil das Kindergartengebäude an sich ok ist. Der Waldweg dorthin hingegen birgt pro Stunde derart viel radioaktive Strahlung, die ein Mensch eigentlich nur als Tagesdosis abbekommen sollte. Für den kurzen Moment einer Minute ist das aber ok.

Mein Weg führt mich entlang der Reaktorruine 5, welche sich zum Zeitpunkt des Unfalls genauso im Bau befand wie die unweiten, nicht fertig gestellten Kühltürme. Der radioaktive Staub lauert auch in dieser Ruine, an dessen Fuß eine Möwenkolonie brütet. Ein heilloses Geschrei bricht aus, als wir dem Reaktor 5 zu nah kommen.

Halbwertzeit von 90Strontium: 28,78 Jahre

Von dort ist es nicht weit zur Betriebskantine, wo wir für wenige Griwna ein opulentes Mal erhalten. Auf dem Rückweg sehen wir gigantische Welse im Kühlwassergraben schwimmen. Deren Ausmaß hat eher mit sehr guter Fütterung denn mit nuklearem Riesenwuchs zu tun.

Gleich nebenan, in der Nähe der Kraftwerkverwaltung, ist die Gedenkstätte für die Piloten und Liquidatoren. Ein Denkmal, dessen zentrale Statue einst in Prypjat stand. Und auch die toten Feuerwehrleute der Werksfeuerwehr, welche als erste am Unfallort waren, erhalten neben der Einfahrt zur Wache ihre Würdigung. Von dort ist es dann nicht mehr weit zur berühmten Perspektive des verunfallten Reaktor 4, vor dem ein weiteres Mahnmal der Reaktorkatastrophe warnt.

Dort, im Sarkophag, schlummert das Endergebnis der Katastrophe, die Kernschmelze. Faktisch so etwas wie eine kleine Sonne auf Erden. Ein Gramm dieser Masse strahlt mit über 4 Milliarden Becquerel. Lebensmittel gelten bereits ab ~350 Becquerel als belastet. Trotz Mauern, Stahl und Beton sollte man sich also nicht zu lange dort aufhalten.

Und dann geht es in die Geisterstadt Prypjat. Vorbei am weißen Ortseingangsschild hin zu einem neuerlichen Check Point. Wieder müssen wir die Dokumente vorzeigen. Erste Anlaufstation ist das ehemalige Stadtzentrum mit dem Supermarkt, dem Kulturpalast „Energetik“ und dem Hotel „Polissja“, welche allesamt der Scharfschützenmission in Call of Duty 4 als Kulisse dienen.

Bereits in der ersten Station, im Supermarkt, wird schnell erkennbar: In Prypjat hausten die Vandalen. Faktisch ist alles umgeschmissen und zertrampelt worden, was wenig für ein übereiltes, einer Evakuierung geschuldetes Verlassen der Stadt hindeutet. In der Tat muss die Miliz das Gelände bestreifen, Metalldieben wegen. Das Metall ist kontaminiert und darf auf keinen Fall in den Umlauf geraten. Trotzdem tut es das, wie vor 3 Wochen auf einem Kiewer Schrottmarkt entdeckt.

Hinter dem Kulturpalast verbirgt sich ein zweites Highlight, der nie in Betrieb gegangene Vergnügungspark. Auf dem Platz zwischen Autoscooter und Riesenrad ist die Strahlung ebenfalls erhöht, weil hier die Hubschrauber landeten um Löschsand, Bor und Bleiblöcke aufzunehmen. Beim Fliegen über dem brennenden Reaktor wurden sie äußerst stark kontaminiert, was sich im den Beton sprengenden Moos wieder den Weg an die Oberfläche bahnt. Dennoch hockt die strahlungsführende Bodenschicht mittlerweile ca. 20-25cm unter der Erdoberfläche. Nur diesem Umstand geschuldet können wir uns relativ frei bewegen.

Eigentlich mag ich es verlassene Orte zu fotografieren wenn die Vegetation noch nicht so sehr austreibt, sprich im Frühjahr oder Winter. Auf der anderen Seite symbolisiert die grüne Hölle Prypjats par excellence wie unglaublich stark die Natur sich zurückholt was ihr gehört. Die Krönung dessen ist ein seelenruhig an uns vorbei spazierender Fuchs, der sich im Schatten des Prypjater Riesenrads niederlässt und mich beim Fotografieren aufmerksam mustert.

Er ist nicht das einzige Säugetier in der Sperrzone. Wildschweine, wilde Katzen, Bären und sogar Elche werden hier gesichtet. Und es wimmelt von Vögeln… Amseln, Meisen, Eichelhäher – alle Vögel sind schon da ;-) Würde man dem russischen Sprichwort Glauben schenken, dass die Anzahl der Rufe des Kuckucks die noch verbleibenden Restjahre des Lebens seien, dann würde meine Rentenversicherung sicherlich kotzen da ich am Ende irgendwo bei 400 rauskäme ;-) Konstant wie eine Maschine ruft der Vogel durch die Geisterstadt.

Wir gehen weiter und besuchen die ehemalige Schwimmhalle, die Polizeistation mit ihren Gefängniszellen und den verstrahlten LKWs im Hinterhof. Auch die Schule des dritten Bezirks schauen wir uns an, wo jemand unzählige Gasmasken auf dem Boden verstreut hat. Machen wir uns nichts vor, die meisten Motive mit Spielzeug, Gasmasken usw. sind gestellt, sind arrangiert. Anfassen aber tu ich das Zeug nicht… Da ist mir viel zu viel Staub im Spiel. Extern kontaminiert zu werden „geht“ noch, das kann man abwaschen. Intern aber kontaminiert zu werden, durch Einatmen des Staubs oder aber Aufnahme durch Lebensmittel ist höchstgefährlich. So lagert sich z.B. 131Iod in der Schilddrüse oder aber 90Strontium in den Knochen ab. Leukämie lässt grüßen!

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