Audioriver Festival 2009 – Vom Kalksee an die Weichsel
Pack die Badehose ein, nimm Dein kleines Schwesterlein und dann nüscht wie raus zur Weichsel… Mit seiner vierten Ausgabe schickt sich das Audioriver Festival an ähnlich zeitlos zu werden, wie Connie Froboess‘ Lied in Sachen Berliner Badespass. Das fein ausziselierte Line-Up festigte erneut das Standing in der Riege der europäischen Open Airs, versammelte sich doch eine ganze Reihe illustrer, für Qualität stehende Namen, beginnend bei Richie Hawtin über Ulrich Schnauss und Gui Boratto bis hin zu James Holden. Selbst die Jungs von Moderat ließen es sich nicht nehmen, ihre rostigen (Zelt-) Nägel erstmals in den polnischen Boden zu schlagen, um dem pittoresken Plock einen musikalischen Sommernachtstraum zu bescheren.
Und da war er zurück, der Sommer. Zwar nicht mit brütenden 30 Grad und bratender Sonne, aber immerhin meldete sich eine Jahreszeit zurück, die bis dato eher im Grauschleier zwischen Frühling und dem schon in den Startlöchern stehenden Herbst zu versacken drohte. Bestes Festivalwetter das genutzt werden will, also adieu ihr grönländischen Wetterverhältnisse und im Takt der ratternden polnischen Staatsbahn ab nach Plock1 zum Audioriver 2009. Die Reise mit der Bahn konfrontiert einen mit wesentlich weniger ukrainischen 40-Tonnern und spielt ab Berlin zeitmäßig mittlerweile in der gleichen Liga2 wie die Fahrt per Auto. Das dachten sich auch die Jungs von Moderat, die nach ihrem Auftritt auf dem Berlin Festival tags zuvor die Ruhe vor dem Audioriver-Sturm nutzten um im Zug Kraft zu tanken. Dank intakter Radsätze und nach gefühlten 5000 Ticketkontrollen kam in den Abendstunden dann auch schon die Weichselbrücke in Sicht, von wo man im Übrigen einen schönen Blick aufs Festivalgelände hat, besonders zur Abenddämmerung.
2009 scheint für Festivals ein Jahr der Superlative zu sein. Full House und begeisterte Massen egal wohin man guckt, von links nach rechts und oben bis unten, über Dance Valley und Melt! bis hin zu SonneMondSterne und Exit. Wie nicht anders zu erwarten, erreichte auch das relativ junge Audioriver neue Sphären, und das nicht nur in Sachen Besucherzahl sondern vielmehr bezüglich Wahrnehmung und Feedback auf internationaler Bühne. Eine gute Ausgangsbasis also um attraktive Line-Ups und andere Neuerungen auf den Weg zu bringen. So wurde, um die Zeit zwischen den wilden Nächten ein wenig angenehmer zu gestalten, das Festival zum Beispiel durch ein Tagesprogramm mit dem treffenden Namen Audioriver By Day erweitert.
Auch die Altstadt wurde ins Festivalgeschehen eingebunden und erlebte eine Verwandlung hin zum weitläufigen Schauplatz, auf dem sich diverse Straßenkünstler, kurzweilige Performances und sogar ein Festivalkino austoben konnten. Letzteres zeigte, wie soll es auch anders sein, vor allem Dokumentationen und Filme mit Bezug zu Musik und Kunst. Darunter cineastische Hochkaräter wie das durch seinen Soundtrack glänzende Exils oder aber Wim Wenders‘ Palermo Shooting, mit Campino, dem Frontmann der Toten Hosen, in der Hauptrolle. Das Kino stand übrigens nicht nur den Festivalgästen, sondern allen und besonders den Menschen aus Plock offen. Ein Schmankerl für die Ohren, sprich Musikalisches durfte natürlich auch nicht fehlen, weshalb die Muzzo Stage ins Rennen geschickt wurde, auf der es freie Bahn für lokale DJs und Acts gab, die im Vorfeld des Festivals von Fans demokratischer Verhältnisse ins Amt hatten gewählt werden können.
Ebenfalls neu mit im Programm war das Hybrid Tent, das das Festival fortan um eine ständige Spielwiese für Electronica und alternative Klänge bereichern wird. Kein Wunder das jener dritte Hauptaustragungsort auf Anhieb vom Publikum angenommen wurde, denn Drum’n Bass, als auch Alternatives stehen bei unseren europäischen Nachbarn sehr hoch im Kurs. Der freitägliche Auftritt von Dub FX weihte jene neue Bühne jedenfalls schon einmal gebührend ein. Folge: Ein gerammelt volles Hybrid Tent mit einer Menschentraube die noch weit außerhalb des Zeltes zu Dub FX abfeierte.
Altbewährtes wurde natürlich nicht wegrationalisiert, und so verwöhnten sowohl Hauptbühne als auch das Techno-Mekka namens Circus Tent wieder ihre Anhänger mit ausgesuchten Liveacts und DJ-Sets. Beide Bühnen wurden angefaßt, bekamen noch bessere Soundsysteme spendiert und wurden zusätzlich um großflächige LED-Displays erweitert. Im Circus Tent ging es mit Catz ‚N Dogz auch gleich richtig los. Die beiden gebürtigen Stettiner Grzegorz und Wojciech leben schon seit einiger Zeit in Berlin und sind vielen Leuten eher unter dem Namen 3 Channels geläufig. Auf dem Audioriver jedenfalls groovten sie nicht nur ihre eigens angereisten Fans ordentlich mit Deep House und loopigem Techno ein; eine solide Ausgangsbasis für die noch kommenden Dinge.
Nächster auf der Bühne des Circus Tents war der Kanadier The Mole aus dem Hause Wagon Repair. Sein Auftritt war eine Fusion aus digitalen und analogen Medien; aus Laptop und Software, gewürzt mit live von Vinyl eingespielten Soundpassagen und Scratches. Mühelos nahm der die Festivalgäste mit auf eine funky-latino angehauchte deep, dubbig, düstere Technoreise in Regionen, in denen sich Maulwürfe am wohlsten fühlen: dem Underground. Gegen Ende seines Auftritts, holte The Mole dann nochmal schelmisch grinsend den Knüppel aus dem Sack und walkte mit Industrial Techno vom feinsten die Menschenmenge durch.
Nach Übereinstimmung aller Anwesenden lieferte im Anschluss daran Ewan Pearson in Form eines technisch perfekten und musikalisch beeindruckenden DJ-Sets die Granate der Nacht ab. Ohne Frage war es Pearson, der die Lunte scharf machte, in Brand setzte und mit seinem anspruchsvollen Geschmack in Sachen House und Techno dem Circus Tent dank purer funky-treibender Deepness den ersten Siedepunkt bescherte. Auf der Bühne wie Rumpelstilzchen umherwuselnd, holte Ewan zu späterer Stunde dann auch noch eine Reihe extrem hypnotischer Deep House Tracks raus. Spätestens dann war es um die versammelte Hörerschaft komplett geschehen und speziell die bezaubernden polnischen Damen gaben sich diesem sexy Groove einfach nur noch hin.
Für echte Rüdersdorfer () ist Berlin eigentlich nur ein Vorort. Unabhängig ob DJ, Clubbetreiber oder Band, was Musik anbelangt, speziell die elektronische, haben dort viele Erfolgsgeschichten ihren Ursprung, die jetzt, unter Berliner Vorzeichen, sogar zu weltweiter Bekanntheit avancierten. Damit sind zwar nicht nur die Modeselektor-Jungs gemeint, aber da die beiden nur wenige Strassen entfernt von mir aufwuchsen3 und ihre allerersten Parties in den alten Industrieruinen Rüdersdorfs abhielten, gestaltete sich das Aufeinandertreffen auf dem Audioriver zum Wiedersehen der ganz besonderen Art.
Ihr Gig auf dem Audioriver war für die Jungs von Moderat auch die Premiere in Sachen Polen, einem Land wo „mein Nachname (Szary) von jedem sofort richtig ausgesprochen wird. Geil!“ Als die Jungs ihren Gig antraten, war es rund um die Hauptbühne knüppeldicke voll, und selbst an der großen Uferböschung gegenüber musste man schon suchen, um noch ein adäquates Plätzchen zu erhaschen. Die vor Erwartung knisternde Spannung entlud sich auch sogleich zu den ersten Tönen des ersten Stücks A New Error.
Rusty Nails, A New Error und Out Of Sight haben genau jenen fein ausziselierten Gesamtcharakter, der bereits beim allerersten Live-Kontakt zu verstehen gibt, dass man etwas ganz besonderem beiwohnen darf; vergleichbar mit dem Moment, wenn die ersten komplexen Geschmacksmoleküle eines Tiramisus die Zunge erreichen und dem Hirn das bevorstehende kulinarische Feuerwerk angekündigt wird. Das manchmal in Einbahnstrassen denkende und handelnde Berlin braucht mehr derartige Musik: aufgeschlüsselte aber treibende Beatstrukturen, nebst Instrumentalem, Keys und Flächen die einem Sinne und Denkvermögen rauben.
Beim Moderat Liveact zählt die audiovisuelle Einheit, in dessen Gesamtheit die Einzelcharaktere zurückstehen. Es gibt nicht viele Acts, die die Sinne auf derart multiple Weise zu stimulieren und inspirieren wissen und somit in einer genreunabhängigen Liga spielen, in der bereits Legenden wie Kraftwerk, Daft Punk oder Pink Floyd audiovisuelle Meilensteine setzten. Ein zu Recht frenetisch gefeierter, Endorphin-auslösender Act, mit einer großen Prise Rüdersdorf, auf die ich als gebürtiger Rüdersdorfer verdammt stolz bin. Nicht nur weil wir alle im Kalksee baden gegangen sind, sondern vielmehr weil ich die eigene Definition und Vorliebe in Sachen Musik und Optik mit viel Liebe zum Detail umgesetzt sehe. Mit Modeselektor, Apparat und nicht zuletzt der Pfadfinderei hat sich ein Trio gefunden, dass zusammenpasst wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.
Die Taktrate der Running Order war beachtlich. Im Gegensatz zu den Vorjahren musste man sich schon sputen bzw. Kompromisse machen, um nicht Gefahr zu laufen den einen oder anderen Act zu verpassen. Die erste Zerreißprobe des Abends lies auch nicht lange auf sich warten: Telefongespräche mit Tel Aviv führen, oder einem Technomaestro aus Sao Paulo zu lauschen? Die Rede ist zum einen von Telefon Tel Aviv, die eigens für das Audioriver aus den Staaten eingeflogen wurden. Dank des eingangs erwähnten Schwesterchens, sind wenigstens zwei Bilder der New Yorker Combo mit dabei.
Zum anderen ist Gui Boratto gemeint, der derzeit mit seinem Album Take My Breath Away durch Europa tourt und tags zuvor im französischen Brest mit Laurent Garnier die Wände zum wackeln brachte. Mühelos knüpfte er an diese Leistung an und schickte die polnische Gefolgschaft mit Atomic Soda, No Turning Back und nicht zuletzt auch mit Klassikern wie Beautiful Live gen Technohimmel. „Kinda love it, kinda hate it. I slept maybe 2 hours this day…“, bewertet der schon seit einiger Zeit tourende Brasilianer seinen Auftritt. „Would have loved to participate more in the interaction, but I really have to struggle to keep my eyes open.“ Die Gäste des Audioriver werden seine superben, auf den Punkt genau getakteten melodiösen Live-Interpretationen, die an alles andere als Schlafmangel erinnern, definitiv nicht so ohne weiteres vergessen.
Schnell noch einen auf die Revolution getrunken, verschwand Herr Boratto und trat zusammen mit Ewan Pearson den Rückweg an. Zeitgleich übernahm der Headliner des Abends Richie Hawtin die Decks und servierte saftigen Techno vom feinsten, welcher in Hawtin-üblicher Manier wie immer technisch auf den Punkt genau gemixt und vor rhythmischer Diversität strotzend über den Äther des Festivalgeländes ging.
Im Vergleich zu den Vorjahren hat sich im Technozelt einiges getan. Die den Auftritt Hawtins rahmenden Animationen und Lichteffekte spielten definitiv in der Oberliga optischer Eindrücke. Dem in Berlin lebenden minus Labelchef gefiel die Stimmung auf dem Audioriver sichtlich und holte einen Kracher nach der anderem aus seinen Laptops.
Ulrich Schnauss, der von seinen Fans nur noch unter dem mysteriösen Akronym „The U“ gehandelt wird, war einer der Hauptacts des neuen Hybrid Tents. Schnauss‘ Gigs in Zentraleuropa sind rar gesät und nicht jeder hat die Möglichkeit mitten in der Woche und spät in der Nacht in die Berliner Panoramabar zu pilgern. Von daher sind seine Auftritte nach wie vor etwas sehr besonderes. Als Vorgeschmack steuerte Ulrich vor kurzem zwei Mixe bei, einen für das Blog A Strangely Isolated Place4 und für die polnische Seite Soundrevolt5. Sein einstündiger Auftritt stand direkt nach Sheds Live Intermezzo auf dem Programm und begann zunächst mit neu interpretierten Werken seines letzten Albums Goodbye.
Das im Interview von vor 2 Jahren angekündigte Live-Setup für seine Gigs scheint Ulrich gefunden zu haben. Er spielte hochkonzentriert, vergaß dabei aber nicht das Publikum mit zusätzlichen Leckerbissen und Raritäten bis ins Mark zu faszinieren. Nach circa einer halben Stunde drehte Schnauss auf und ließ einen Sommerregen aus deepen Technogrooves auf seine Zuhörer niedergehen. „Jene Produktionen habe ich das letzte Mal vor gut 10 Jahren angefasst. Irgendwie passen sie aber zum Moment.“ Wie Recht er damit hatte, spiegelte sich in den staunenden Augen und offenen Mündern des Publikums, als auch in der über der Uferböschung just aufgehenden Sonne wieder. Magische Momente wie diese sind so selten wie die Liebe auf den ersten Blick, aber es gibt sie. Einer der musikalischen Feinschmecker im Publikum kommentierte Schnauss‘ Liveact als „He is a fucking master of space…!“; ein Statement das den Nagel nicht nur auf dem Kopf traf, sondern diesen mit einem Hammerschlag versenkte. Ohne Frage, Hawtin und Holden waren Klasse, wer diese beiden allerdings Schnauss komplett vorzog, dem sei gesagt, dass er etwas verpasste, wofür er sich später noch einmal richtig ärgern wird…
Immer wenn ich James Holden treffe, hat er einen neuen Booker. Erst der Wechsel von Imprint zu Cocoon, und nun der Schritt in die Unabhängigkeit. Für das in Anlehnung an sein Label Border Community stehende Border Bookings sei ihm viel Glück und Erfolg gewünscht, und welch DJ-Leistung der Labelchef im Stande zu erbringen ist, stellte der junge Renegad auch sogleich nach Richie Hawtin unter Beweis.
Mit pumpenden Bässen, einer Prise Acid, rock-angehauchten Elementen und den Border Community typischen schrägen Flächen fesselte er die Menschenmenge, liess sie nicht mehr los und trieb sie über den Weichselstrand durch die Dämmerung als gäbe es kein Morgen. Das einzige was sich ab und an zu entfesseln drohte war Mister Holdens Hose, die dem auf der Bühne ordentlich rockenden Briten als einzig Unkontrollierbares manchmal fast zu entgleiten drohte.
Wenn auch die Sonne nicht kraftvoll genug war um Sonnenbrände zu verursachen, so vermochten es wenigstens die Mücken uns derart gerötet umher laufen zu lassen wie einst zu Sowjetzeiten. Der Abendbrottisch zumindest war für diese kleinen Plagegeister mit touristischen Häppchen aus dem Baltikum, Weißrussland, Tschechien oder Deutschland mehr als reichlich gedeckt. Nächstes Jahr wird der Tisch der Nationalitäten sicherlich noch gedeckter sein, wenn in Plock wieder Panzer-Luftballons über den Tisch gehen und es gilt den Ansturm des Jahres zu bewältigen, wenn es erneut drei Tage lang AUDIORIVER heißt.
Audioriver 2009 Review – verwendete Fototechnik: Canon 1Ds Mark III, 16-35 f/2.8L II, 24-70 f/2.8L, 70-200 f/2.8L IS USM, 50mm f/1.4, 85mm f/1.8L
xflo:w Rezension des Audioriver Festivals 2008 | ||
xflo:w Rezension des Audioriver Festivals 2007 |
*1 | – | Spricht man Plock als „Plock“, dann wird jeder Taxifahrer mit den Schultern zucken. Korrekt wird es „pwotsk“ ausgesprochen, wobei das „w“ nur leicht angedeutet wird. |
*2 | – | Die Anreise dauert so oder so 6 Stunden. Besonders das „Autobahn“-Teilstück zwischen Frankfurt bis kurz vor Poznan steht der A2 in Sachen Staugefahr in nichts nach. Die Reise mit der Bahn führt über Poznan nach Kutno, wo man in den Regionalzug oder Bus Richtung Plock umsteigt, welcher dann nochmal ca. 1 Stunde braucht, ehe er die Stadt an der Weichsel erreicht. Hier ein Fahrplan-Beispiel (PDF), gültig für 2009. |
*3 | – | Streng genommen kommt Gernot aus dem abtrünnigen Woltersdorf ;-) |
*4 | – | Ulrich Schnauss Mix für A Strangely Isolated Place |
*5 | – | Ulrich Schnauss Mix für Soundrevolt |