Das Audioriver Wochenende 2010 – Wenn alle Dämme brechen…
Ob nun in Sachen Wasser oder Emotionen, für unsere östlichen Nachbarn war 2010 bis dato ein buchstäblich überschwappendes Jahr. Glücklicherweise ist das ganz große Wasser gewichen, die Deiche an der Weichsel machen keine dicken Backen mehr und auch die Biber können aufatmen, denn für die (Besucher-) Wellen, die die Gegend um das Städtchen Płock fluteten, können sie wohl schlecht verantwortlich gemacht werden. Das fünfte Audioriver Festival sah zwei Nova: zum einen, Miamis WMC lässt grüssen, das Einbeziehen der Musikindustrie, zum anderen entzückten mit Richie Hawtin und Hybrid zwei bereits in den Vorjahren gebuchte Protagonisten die internationale Crowd ein zweites Mal. Tatkräftige Unterstützung gab es seitens Laurent Garnier, Way Out West, The Deep Modern Left Quartet oder DJs wie Karotte, Christian Smith und vielen anderen.
Freitag
Während es im letzten Jahr noch “Pack die Badehose ein” hieß, wanderte in 2010 die Regenjacke mit ins Reisegepäck, denn irgendwie schien den vielen britischen Künstlern das Wetter genauso gefolgt zu sein, wie die kleine Zeichentrickwolke, die direkt über Deinem Kopf abregnet. Trotz flammender Temperaturen im Juli, nahm sich der Sommer am ersten Augustwochenende leider eine Auszeit und Zentraleuropa, so auch Płocks Audioriver Festival, glich allerorts eher einer bewölkten Waschanlage denn einem Hitzepool voll leicht bekleideter Menschen.
Der Regen zeichnete dann auch schnell Sorgenfalten in die umliegenden Gesichter. Für einen Moment schien es, als ob uns eine Schlammschlacht à la Wacken bevorstünde, denn teilweise taten sich (zumindest in der Stadt) Pfützen atlantischen Ausmaßes auf. Zwischen 23 Uhr und Mitternacht verzog sich der Niederschlag allerdings und einem trockenen Festival stand nichts mehr im Wege. Es dauerte dann auch nicht mehr lange bis der Weichselstrand überquoll, z.B. um den ersten großen Act auf der Hauptbühne mitnehmen zu können.
The Black Dog ist vielen Leuten eher aus dem Ambientsektor bekannt und nicht nur ihr letztes Konzeptalbum, das großartige Music For Real Airports, zeugt davon sondern auch die vielen Podcasts, für die sich die Jungs verantwortlich zeichnen (Bodytonic Podcast 081, Dark Days – Grey Nights, Drifting Ambient Mix May 2010).
Mit allem anderen als beatloser Musik zeigten die Jungs dann auch, warum Sheffield das Detroit Großbritanniens genannt wird und was die zwei unter wibbly wobbly world of techno verstehen. Herrlich wummerndes Deep House begleitet von melodiösem Techno war ein grandioses Opening für den Freitag an der Hauptbühne und The Black Dog für mich definitiv eine der großartigsten Acts des gesamten Festivals. Offensichtlich schien auch Petrus auf den Sound von Ken und Richard zu stehen, denn kaum fingen die beiden an, verzogen sich die Wolken und der Sternenhimmel schimmerte tiefblau über der Weichsel.
Für den ganz großen Flashback sorgten Nick Warren und Jody Wisternoff, besser bekannt als Way Out West. Ehrlich gesagt war ich ein wenig skeptisch, denn die zuvor im Netz gehörten MP3s von Live Sets der beiden ließen mich irgendetwas missen…
Als die zwei dann mit Klassikern wie Ajare, Domination oder aber The Fall aufwarteten, gab es weder im Publikum noch auch auf der Bühne ein Halten, und nicht nur die schon Gewehr bei Fuß stehenden Jungs von Hybrid hielt es nicht mehr still. Ganz großes Kino bescherte uns dann The Gift, das die Weichselwiese aufs herrlichste mit sommerlich-guter Laune flutete und das Ensemble der Zelte am Fluss in eine magische Stimmung tauchte. Und auch bei Nick und Jody gingen die Mundwinkel sichtbar nach oben. Sie hatten jede Menge Spaß beim ersten Way Out West Gig auf polnischem Boden.
Jeder der behauptet hätte, dass Chris Healings und Mike Trumans Auftritt auf dem Audioriver 2007 vom 2010er Gig in den Schatten gestellt werden wird, wäre damals wohl von einer Vielzahl ungläubiger Blicke traktiert worden, denn, besser kann man elektronische Musik einfach nicht ausfeilen und arrangieren. Pustekuchen… Hybrid haben mit ihrem Album Disappear Here die Champions League neu definiert, die Meßlatte höher gelegt und entführen uns mit der dazugehörigen Live-Präsentation in ungeahnten tiefe, filigrane und treibende Klangwelten.
Emotionalster Moment ihres Auftritts war ohne Frage die Neuinterpretation des Klassikers Finished Symphony. Die Philosophie von Hybrids musikalischem Ballzauber handelt, anders als bei den Spaniern, nicht von Mauertaktik und nüchternen Ergebnisfußball, sondern um viele tausend Beine die tanzend genau das verinnerlichen, wofür Hybrid schon immer stand: detailverliebte Rhythmen und Melodien, die trotz Ihrer Komplexität weder schwülstig klingen noch still sitzen lassen. Schaun mer mal, ob es irgendwann mal einen dritten Audioriver-Gig gibt und die Jungs dann endlich wissen, wie man Płock richtig aus- und deren Einwohner anspricht ;-)
Eigentlich sollte man ja nie von Produktionen auf DJ-Sets schließen… Komischerweise setzte der Name Simian Mobile Disco meine Stirn eher unter Falten und ließ die Frage, warum die nun ausgerechnet Headliner sind und auch im Watergate auflegen im Kopf rumschwirren. Tja… Die beiden waren DJ-mäßig eine der dicksten Überraschungen die mir je untergekommen ist. Was sich über The Black Dog, Way Out West und Hybrid aufgebaut hatte, entlud sich zum rotzfrechen DJ-Set von James und James explosionsartig und die Gegend um die Hauptbühne wurde mit unglaublich treibenden, als auch aufgeschlüsselten Rhythmen fernab des homogen-kommerziellen Elektroeinheitsgewabers in komplette Ekstase versetzt. Rave pur!
Den Reigen der internationalen DJ-Größen im Technozelt, der Circus Arena, eröffnete Christian Smith, der spätestens durch seine sehr produktive musikalische Liaison mit John Selway bekannt ist. Bereits Chris Liebing warf ein Auge auf die von progressiven Einflüssen durchzogenen, dynamischen DJ-Sets des nach Sao Paulo gezogenen Wahl-Brasilianers. Leicht industriell angehauchter, von schrägen Flächen und aufbauenden Beatstrukturen durchzogener Techno brachte das Technozelt dann auch schon schnell an den ersten Siedepunkt des Abends.
Wenn man in Berlin wohnt, braucht man nicht nach Polen zu fahren um sich BPitch Control zu geben. Überlieferten Nachrichten nach verzückte Ellen Allien ihre Fans, so richtig interessant wurde es allerdings erst wieder am Anschluss an ihr DJ-Set, denn dem allgemeinen Bio-Trend folgend, gab es auf dem Audioriver nicht nur Fleisch sondern zum krönenden Abschluss auch Gemüse auf die Ohren. Das Hand gestreichelter Vegansound keine Mogelpackung aus Tofu, sondern auch durchaus bissig und gehaltvoll sein kann, stellte niemand anders Karotte, Cocoon-Resident und Deutschlands wohl klanggewaltigster Ex-Schornsteinfeger unter Beweis.
Ich liebe Künstler, die ihrer Liebe zur Musik auch physisch Ausdruck verleihen und da ist man bei Karotte in besten Händen. Scheinbar mühelos wechselt er zwischen artverwandten Genres und am besten zünden seine Sets, wenn er aus locker flockigem House und dessen homöopathischer Verspieltheit in die brachiale Urgewalt trommelnder Technobeats zurückspringt. Lustigerweise spielte er 1-2 Platten die tags darauf von Laurent Garnier live dargeboten wurden. Der Mann hat superb gerockt und nach einer derartig saftigen Packung energetisch-tribalen Techhouse, lies einen der Muskelkater tags darauf zum Bahnhof laufen, als ob man C-3PO einen Bruder nennen könnte…