Kalkutta – Außer (Verkehrs-) Kontrolle

Was ist der wichtigste Körperteil der Einwohner von Kalkutta? Richtig, die Hupe. Ob Auto, Motorrad, Rikscha oder Zweirad: ohne sie geht gar nichts, egal ob handbetrieben oder mit Echoeffekt. Der Verkehr, bzw. genauer gesagt das Verhalten im Verkehr sprengt alles bisher Dagewesene. Es vergehen keine 3 Sekunden bis sich erneut ein gellender hochfrequenter Ton durch die Ohrmuschel gen Hirn fräst. Ein Wunder das die Leute in diesem Frequenzbereich noch nicht taub sind… Verkehr und schier unglaublich unhygienischer Dreck sind leider auch die dominierendsten Elemente der Stadt, was Kalkutta manchmal zu einem kleinen Vorhof zur Hölle macht. Wäre da nicht das bescheidene Domizil einer kleinen Frau aus Albanien: Mutter Theresa.

In Skandinavien braucht man nur in Richtung Zebrastreifen zu schielen und der gesamte Autoverkehr im Umkreis von 2 Kilometern legt andachtsvoll eine Vollbremsung hin, um einen freundlich über die Straße zu winken. Kalkutta ist das genaue Gegenteil, die dunkle Seite der Macht sozusagen; dort wird‘s Gaspedal gen Boden getreten und natürlich die Hupe gedrückt, während man als Fußgänger das Schlachtfeld versuchen darf zu überqueren. Der Lonely Planet meint Kalkuttas Bettler hätten das größte Belästigungspotential. Weit gefehlt! Es ist eineindeutig der Straßenverkehr. Selbst abends im Hotel kann man sich dem 24 Stunden am Tag und 7 die Woche laufenden Hupkonzert nebst unglaublicher Reizüberflutung nicht entziehen. Grauenhaft!

Obwohl an der Kreuzung der belebten Ballygunge Circular Road und Riperton Street gelegen, ist Mutter Theresas Mission einer der ruhigeren Orte Kalkuttas. Auch wenn man nicht religiös ist, so hat diese kleine Frau vielen Menschen geholfen, sie inspiriert und sich höherer Dinge wegen aufopferungsvoll um die ihr Anvertrauten gekümmert. Wenn man vor ihrem Grabmal steht oder aber durch die Gitterstäbe in ihre kleine Kemenate schaut, kann man nur noch ehrfürchtig erstarren und lässt die Kamera automatisch in der Tasche, für alle anderen Besucher ist es, bis aufs Grabmal, verboten.

Eine der imposanteren Sehenswürdigkeiten Kalkuttas ist das Queen Victoria Memorial, eine Art indische Version des Washingtoner Capitols, das sich im Süden des Maidan Parks anschließt. In den Abendstunden wird der von den Einheimischen „VM“ genannte Bau Teil einer Sound- und Lichtshow. Der Park würde noch schöner wirken wäre er nicht der Staubfänger der Großstadt.

Fährt man die Rabindra Sarani gen Norden und macht an der Zakaria Street einen Stopp, so fällt einem sofort die wuchtige, mitten in die Häuser gesetzte Nakhoda Moschee auf. Fremde dürfen sie durchaus betreten und nach einem freundlichen „as salamu alaikum“ war es auch kein Problem auf eines der Minarette zu gelangen, was ein eher außergewöhnliches Zugeständnis ist. Die kompakt gebaute Moschee ist ein großartiges Beispiel für die Multireligiosität Indiens, in der ein Hindu zwinkernd „I don’t like him. He cuts the cow!“ frotzelt, während der Moslem „And you like dogs, drink alcohol eat and pork…“ erwidert, sich beide im Grunde genommen aber verstehen und miteinander klar kommen. In anderen Gegenden Indiens, im Kaschmir zum Beispiel, ist, wenn auch politisch gewollt, weniger Toleranz an der Tagesordnung.

Die alten Siedlungsgebiete der 16-Millionenstadt Kalkutta können erschreckend dreckig sein. So dreckig, dass ich es mir dreimal überlegte Fotos davon in diesen Bericht einfließen zu lassen. Abwässer, darunter auch fäkale, die auf der Straße entlang fließen und darin spielende Kinder sowie ein „Koch“, der später 50 Gäste haben wird, wäscht seine Schüsseln damit aus. Lecker! Das Foto mit den Fischhändlern auf der Straße, hinter der grünen Mauer lag eine ca. 3-4 Wochen alte menschliche Leiche an die bereits von Hunden gefleddert wurde. Ein grauenhafter Anblick…!

Von Feinstaub befreite, westliche Lungen mögen in Europa vielleicht länger leben, bekommen aber angesichts der Dreckattacke anderswo auf der Welt ein mitunter gehöriges Problem. Man braucht sich nur mal die Pflanzen am Straßenrand anschauen und bekommt ein Bild des Smogs der sich abends unter der Dusche als grauer Schleier von der Haut löst. Im Einkaufs- und Stadtzentrum Kalkuttas schottet sich die sicherlich sauberer lebende Elite ab. Dort trifft man dann aber auch nur austauschbare Generika wie Dolce & Gabbana oder Glas- und Stahlarchitektur, sprich indische Authentizität auf kleinster Sparflamme.

Vom Wohlgeruch der aus Linsen und Reis zubereiteten Speise bleibt nicht viel übrig, wo eben noch gefühlte achthundert Menschen öffentlich urinierten und jetzt ein kleiner Imbiss für Somosa steht. Dies in der Nase, weichst Du der sich im Abstand von nur wenigen Zentimetern und mit dem stalinistischen Charme einer russischen Panzerhaubitze durch den Alltag drängelnden Straßenbahn aus, während Dir *zack* schon wieder einer über den Fuß fährt. Glücklicherweise sind die Zehen auch diesmal in die guten Bergsteigerschuhe verpackt, sonst wäre der Fuß jetzt Matsch. Uns ist‘s nicht der Fuß, dann kriegen die Ellenbogen was ab. Wenn Wiedergeburt, dann bitte bitte nicht in Kalkutta und schon gar nicht als Verkehrsteilnehmer!

Derartigen Szenen kann man mit einem Besuch des New Markets entfliehen. Vom Äußeren, der Horde Krähen und Habichte die sich über die Schlachtabfälle der Geflügelabteilung hermachen, sollte man sich nicht abschrecken lassen. Wer Tee der besten Lese oder hochqualitative Gewürze zu wirklich günstigen Preisen erstehen will, ist hier genau richtig. Man trifft auf nette Kerle wie Shaduh, der in seinem kleinen Kiosk großartige Dinge wie den einzig wahren Kaschmir-Safran oder aber nach eigenem Geschmack zusammengestellte Masala-Mischungen führt. Er führt auch das Pulver der Bhut Jolokia Chili, von dem 50 Gramm der extremen Schärfe wegen garantiert ein Leben lang reichen werden.

Trotz der horrenden verkehrsbedingten Reizüberflutung kann man mit den Einheimischen Kontakt aufnehmen. Der im Unterhemd operierende Fleischer ist vom Flirt mit der Kamera derart angetan, dass er seine Finger nur knapp der Wirkung der routiniert nach unten sausenden Machetenklinge entziehen kann. Nicht nur dem Fleischer kann man über die Schulter schauen, das ganze Leben im historischen Kalkutta findet öffentlich und entlang der Schlagandern des Verkehrs statt. Im Milliardenstaat Indien gibt es diesbezüglich keine Berührungsängste, selbst waschen tun sich viele Menschen am Straßenrand während kein Körperteil ausgespart wird. Es liegt daher auf der Hand das dem Auge und Horizont eines Reisenden trotz der recht derb verdreckten und unhygienischen Umgebung sehr viel geboten wird. Ist man längere Zeit in Indien unterwegs, so bekommt man eine schiere Gier auf frisches Obst bzw. nicht zerkochtes Gemüse. Bitte daran denken, dass die Abgase und Rußpartikel des Stadtverkehrs gut abgewaschen werden müssen! Und zum Abwaschen bitte nur abgepacktes Mineralwasser verwenden!

Mehr aus dieser Kategorie