Waisentunnel – Die Ost-West-Flucht durch die Berliner U-Bahn

Berlin hat viele unbekannte Bauwerke. Einer dieser Ungesehenen liegt mitten unter der Spree und verbindet die U-Bahn im Bereich von Litten- und Brückenstraße. Es ist der Waisentunnel, ein Verbindungstunnel, der im Jahr 1980 Bühne einer cleveren und spektakulären Flucht von Ost- nach West-Berlin war.

Ab in den Untergrund des Waisentunnels…

Wir treffen uns am U-Bahnhof Jannowitzbrücke. Von dort geht es in den Gleisbereich der Berliner U-Bahnlinie U8. Natürlich ist all das offiziell und angemeldet. Wäre es das nicht, wäre ruck-zuck ein Polizeigroßaufgebot vor Ort und der U-Bahnbetrieb angehalten. Logisch, denn im Gleisbereich herrscht im laufenden Betrieb definitiv Lebensgefahr. Nur circa hundert Meter hinter dem U-Bahnhof Jannowitzbrücke erreichen wir den Abzweig um den es geht.

Die Rede ist vom Waisentunnel, einem Verbindungstunnel zwischen der U8 und dem Gleissystem rund um den Alexanderplatz. Da er die Waisenstraße unterirdisch quert, erübrigt sich die Frage nach der Herkunft des Namens. Genau wie beim Flughafen BER, ist dort nie ein Flieger gestartet, respektive eine reguläre U-Bahn gefahren. Die AEG wollte um die Jahrhundertwende eine eigene Nord-Süd-Verbindung schaffen, welche aber in Folge des Ersten Weltkriegs pleite ging.

Neubau und Sanierung

Für damalige Verhältnisse revolutionär war der Bau des Waisentunnels, welcher von der Siemens-Bauunion als Betondecke unter Wasser in den Grund der Spree gegossen wurde. Die Finalisierung des Tunnels erfolgte dann unter Absenkung des Grundwassers, um das Erdreich unter der Betonplatte auszuheben. Dieses Bauverfahren hatte nur sehr geringe Auswirkungen auf die damals noch bedeutende Schifffahrt auf der Spree zwischen Ober- und Unterbaum. Trotz jenes revolutionären Bauverfahrens war der Waisentunnel aber nie dicht gewesen, was 1930 in einer ersten Tunnelsanierung mündete.

Heute schlummert der Waisentunnel im Dornröschenschlaf und wird auch nicht mehr für Betriebsfahrten genutzt, obwohl vor wenigen Jahren noch die Cabrio-U-Bahn der BVG durch den Waisentunnel fahren durfte. Doch auch damit ist Schluss. Der Tunnel selbst wird saniert, wobei Gleise zurückgebaut und Stützpfeiler/-wände eingezogen werden. Und dann wird’s teuer…, denn es muss unter Wasser gebaut werden um den Tunnel zu erhalten. Und dann sind da natürlich noch die Bauarbeiten rund um den Alexanderplatz, des Lückenschlusses der U5 wegen. Auch im Rahmen dieser zusammenhängenden Maßnahme kommt der Waisentunnel unters Messer.

Ich habe und nutze das Glück, ihn noch von Stützen unverbaut erleben und fotografieren zu dürfen. Für den Fotografen schön, aber für das Bauvorhaben schwierig ist die S-Kurve des Tunnels. Durch diese Kurve lief damals, in der Nacht des 8. März 1980, die Familie des Signaltechnikers und Stellwerkmechanikers Dieter Wendt. Bevor sie die erlösende U8 erreichten, mussten sie sich aber noch durch die Wehrkammer des Tunnels zwängen. Dort, wo jetzt die chinesische Botschaft steht, hielten sie dann einen der Züge der U8 an, um, im Fahrerhäuschen vor Grenzsoldaten und Transportpolizei versteckt, in den Westen zu gelangen. Die Linie U8 war damals eine Geisterbahn, die, in West-Berlin gestartet durch Ost-Berliner Territorium fahren musste um wieder West-Berlin zu erreichen. Sie durfte dabei anhalten.

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